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Ein Damm, der bald brechen könnte
Das Verhältnis der US-Reformjuden zur israelischen Regierung ist angespannt, Streitpunkt ist das Gebet an der Klagemauer
Der Besuch des israelischen Premierministers auf der jährlichen Generalversammlung der Jüdischen Föderation Nordamerikas hat Tradition. In diesem Jahr aber ist alles anders: Die israelische Regierung und die jüdische Gemeinde in den USA sind sich fern, wie lange nicht mehr. Noch ist nicht klar, ob Netanjahu zu der Versammlung im November reisen wird. Der Streit dreht sich unter anderem um die Frage, ob Frauen und Männer gleichberechtigt an der Klagemauer beten dürfen oder nicht. Ein Beitrag von BR-Reporter Kilian Neuwert.
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Sie kommen, um zu beten: An jedem ersten Tag des jüdischen Monats versammeln sich Frauen an der Klagemauer in Jerusalem. Demonstrativ lesen sie aus der Thora und brechen damit ein Tabu, denn ihnen ist das nach wie vor verboten. Genauso, wie Seite an Seite mit Männern zu beten. Anat Hoffman, die die Bewegung der „Women of the Wall“ anführt, ist empört über diesen Zustand. Denn eigentlich sollte es längst anders sein: Ein Beschluss aus dem Jahr 2016 sieht einen gemischten Gebetsbereich für beide Geschlechter vor. Umgesetzt hat ihn die Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu aber bis heute nicht.
Die Entscheidung, alles einzufrieren und unser Projekt fallen zu lassen, gleicht einer Ohrfeige, einem totalen Sinneswandel.
Anat Hoffman ist mit ihrer Wut nicht allein. Auch Teile der jüdischen Gemeinschaft in Nordamerika sind empört. Vor allem liberal-reformistische Kreise fühlen sich übergangen. Zu Netanjahus schärfsten Kritikern zählt der einflussreiche Präsident der Union des Reformjudentums, der US-Rabbiner Rick Jacobs:
Das Abkommen, das die Regierung vor eineinhalb Jahren verabschiedet hatte, stellte einen Kompromiss mit den Ultraorthodoxen darf. Und es war gleichzeitig eine Erklärung an uns, dass wir nicht nur an der Klagemauer, sondern symbolisch gesehen auch im jüdischen Staat unseren Platz haben. Durch ihr Handeln sagt uns die Regierung jetzt, dass die überwiegende Mehrheit der Juden in der Welt nicht willkommen und nicht rechtmäßig ist.
Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Nordamerika, wie Jacobs, verstehen sich als Lobby und finanzielle Förderer Israels. Im Gegenzug wollen sie mit ihren Ideen eines modernen Judentums auch in Israel ernst genommen werden. Doch damit tut sich Netanjahu schwer: In seiner Koalition mit nationalen und konservativ-religiösen Kräften wie der Schas-Partei ist er unter Druck. Der Schas-Vorsitzende Arje Deri machte schon vor der Regierungsbildung klar, wohin die Reise gehen soll:
Wir werden nicht in einer Regierung sitzen, die die Reformjuden anerkennt. Nicht im Hinblick auf die Klagemauer und auch nicht im Hinblick auf Eheschließungen und Scheidungen.
Beobachter rechnen nun damit, dass die Kluft zwischen Netanjahus Regierung und der reformistischen Gemeinde im Ausland noch größer werden könnte. Denn offen ist, ob der Premier in Kürze zur Generalversammlung der Jüdischen Föderation Nordamerikas reist. Ein Anzeichen für eine schwere Krise, sagt der Historiker David Barak-Gorodetsky, der zu Israels Beziehungen in die Diaspora forscht:
Noch hat keine jüdische Organisation in den USA Spendenzahlungen an Israel eingestellt. Noch nicht. Aber das könnte jede Minute passieren. Stellen sie sich einen Damm vor, der kurz vor dem überlaufen oder brechen steht. Dieses Bild beschreibt die Situation am besten.
Offiziell heißt es, Netanyahu habe keinen Platz im Terminkalender und sei erst kürzlich in den USA gewesen, wo er auch Vertreter jüdischer Organisationen getroffen habe. Barak-Gorodetsky aber ist der Ansicht, Netanjahu könne es sich leisten, insbesondere vielen Juden in den USA die kalte Schulter zu zeigen:
Mit der Regierung Trump hat sich allerdings etwas Grundsätzliches geändert. Netanjahu denkt sich wohl, dass liberale Kräfte in den USA an Einfluss verloren haben. Damit wäre die israelische Regierung auf sie auch nicht mehr so angewiesen wie früher.
Denkbar ist derzeit noch, dass sich Netanjahu immerhin für eine Videokonferenz zuschalten lässt. Auch im letzten Jahr hat er das getan. Gleich die erste Frage galt damals der Situation an der Klagemauer.